Während geflüchtete Menschen mit einer Behinderung besonders schutzbedürftig sind und Unterstützungsstrukturen benötigen, ist oftmals eine bedarfsgerechte Aufnahme und Begleitung in Deutschland nicht gewährleistet. Zu behinderungsbedingten Barrieren können zudem sprachliche und kulturelle Hürden treten. Umso wichtiger ist, dass sowohl Fachkräfte als auch Ehrenamtliche wissen, welche Rechte Menschen mit Behinderungen zustehen und wie sie diese am besten durchsetzen können.
Was fällt überhaupt unter eine "Behinderung"?
Es ist nur schwer möglich, eine allgemein gültige Definition für Behinderungen zu finden, da wohl keine Beschreibung die Lebensrealität aller betroffener Personen vollständig erfassen kann. Dementsprechend gibt auch Artikel 1 der UN-Behindertenrechtskonvention keine abschließende Definition vor, sondern beschreibt „Menschen mit Behinderung“ in einem sehr weitgefassten Sinn:
"Menschen die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können."Daneben betont die UN-Behindertenrechtskonvention, dass sich das Verständnis von Behinderung ständig weiterentwickelt.
Welche Rechte haben Geflüchtete mit Behinderungen?
Menschen mit Behinderungen haben ein Anrecht auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aus verschiedenen Rechtsquellen lässt sich ableiten, dass dies auch für geflüchtete Menschen mit Behinderung gilt. So schreiben die UN-Behindertenrechtskonvention sowie etwa die EU-Aufnahmerichtlinie vor, dass die Rechte geflüchteter Menschen mit Behinderungen zu wahren sind. Hierbei geht es insbesondere um Themen wie die Unterbringung in behinderungsgerechten sowie barrierefreien Unterkünften oder der medizinischen Versorgung.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte, die deutsche Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention, hat hierzu in einem Positionspapier übersichtlich dargestellt, welche rechtlichen Anforderungen an staatliche Stellen bestehen und in welchen Bereichen (noch) Handlungsbedarf besteht:
Die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung ist in Deutschland im Sozialgesetzbuch (SGB) IX geregelt. Neben der ärztlichen Behandlung ermöglicht das SGB IX auch zahlreiche weitere Maßnahmen, wie etwa Krankengymnastik, Sprachtherapien, Seh- und Hörhilfen oder die Frühförderung von Kindern mit Behinderung. Der Zugang zu den Leistungen, die nach dem SGB IX gewährt werden, kann aber vom Aufenthaltsstatus bzw. davon abhängen, welche Leistungen geflüchtete Menschen beziehen.
So haben insbesondere Asylsuchende sowie Menschen mit einer Duldung, die während der ersten 18 Monate des Aufenthalts die sogenannten Grundleistungen des AsylbLG beziehen, nur einen Anspruch auf Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände. Entsprechend besteht für geflüchtete Menschen mit Behinderung auch nur ein Anspruch auf Therapien oder Hilfsmittel, die für die Behandlung oder Linderung akuter Schmerzzustände erforderlich sind (beispielsweise einige orthopädische Hilfsmittel). Dagegen werden Maßnahmen, die eher dem Bereich der medizinischen Rehabilitation zuzuordnen sind, nicht ohne Weiteres gewährt. Über die Bewilligung dieser Leistungen muss vielmehr das Sozialamt eine Einzelfallentscheidung treffen. Es hat dabei allerdings höherrangiges Recht (besonders die UN-Behindertenkonvention und das Grundgesetz) zu berücksichtigen und muss die jeweiligen Leistungen bewilligen, wenn dies aus menschen- und verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist.
Was bedeutet dies für die Beratungs- und Unterstützungspraxis?
Die tatsächliche Rechtslage und die Praxis sind komplexer, als es hier dargestellt werden kann. Da es sich zudem immer um Einzelfallentscheidungen handelt, müssen sowohl Fachkräfte als auch Ehrenamtliche, die mit Menschen mit Behinderungen zusammenarbeiten, genau wissen, auf welche Leistungen ein Anspruch besteht und wo diese zu beantragen sind. Da der Zugang zu Leistungen sowohl von der aufenthaltsrechtlichen Situation der Betroffenen als auch von den sozialrechtlichen Rahmenbedingungen abhängt, ist es notwendig, sich über beide Rechtsgebiete zu informieren.
Dies ist auch der Anspruch des von der Passage gGmbH und dem Caritasverband Osnabrück herausgegebenen Leitfadens. Die Broschüre vermittelt einen Überblick über die rechtliche Materie und ist sowohl sowohl für Mitarbeitende der Gesundheitsdienste als auch für Beratende aus der Migrationssozialarbeit oder von Flüchtlingsinitiativen gedacht. Mithilfe des Leitfadens können Beratende eine erste Prüfung vornehmen, welche konkreten Leistungen für die Betroffenen benötigt werden, wie deren aufenthaltsrechtliche Lage ist und welche Sozialleistungsträger zuständig sind.
Handicap International hat eine umfangreiche Sammlung von Informationen, Materialien und Kontakten in einer „Roadbox“ zusammengestellt. Die Roadbox ist ein barrierefreies Themenportal, die Fachkräften in der Arbeit mit geflüchteten Menschen mit Behinderung unterstützen soll.
→ Handicap International, Crossroads Roadbox
Auch Asylsuchende und Flüchtlinge können Anspruch auf Leistungen zur Eingliederungshilfe haben, der aber im Einzelfall geprüft und ggf. durchgesetzt werden muss. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer hat eine Arbeitshilfe mit Informationen über die Leistungen der Eingliederungshilfe sowie die Durchsetzung der Ansprüche gegenüber Behörden herausgegeben. Sie zeigt, wo die rechtlichen Regelungen zu finden sind und welche Besonderheiten für geflüchtete Menschen bestehen. Darüber hinaus werden die einzelnen Leistungsarten erläutert und das Verwaltungsverfahren erklärt. Das Problem der behördlichen Ermessensentscheidung sowie die rechtlichen Mittel zur Durchsetzung der Ansprüche werden vertieft behandelt:
→ BafF, Arbeitshilfe: Leistungen der Eingliederungshilfe für Geflüchtete, August 2020
Informationen für Geflüchtete und Migrant*innen
Auch für Geflüchtete selbst gibt es Informationsangebote und Handreichungen in verschiedenen Sprachen oder in einfach verständlichem Deutsch. So haben der Flüchtlingsrat Niedersachsen und das Netzwerk AMBA ein Informationsblatt mit Informationen für Geflüchtete mit Behinderung herausgegeben. Es richtet sich auch an Geflüchtete selbst, allerdings sind dafür Sprachkenntnisse notwendig. In der Broschüre finden sich auch Adressen von Beratungsstellen. Darüber hinaus haben der Caritasverband für die Diözese Osnabrück und das Netzwerk AMBA+ eine mehrsprachige Broschüre zur Beantrag eines Schwerbehindertenausweises veröffentlicht.
→ Flüchtlingsrat Niedersachsen/AMBA Netzwerk, Informationen für Geflüchtete mit Behinderung, Juni 2019
Das Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e.V. hat eine Broschüre zum Thema Leben mit einer Behinderung veröffentlicht, die auf Deutsch, Arabish Persisch, Englisch, Polnisch, Französisch, Rumänisch, Türkisch, Ukrainisch und Russisch erhältlich ist. Eine weitere Broschüre auf Deutsch und Ukrainisch widmet sich dem Thema Leben mit Autismus.
Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales betriebene Website "einfach-teilhaben" bietet Informationen zum Thema Leben mit Behinderungen, teilweise auch in leichter Sprache und in Gebärdensprache an. Man kann sich ganz einfach durch die verschiedenen Bereiche durchklicken:
→ Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Website "einfach teilhaben"
Für geflüchtete Eltern mit Kindern, die eine Behinderung haben, gibt es diese Broschüre des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bkvm) in verschiedenen Sprachen (Deutsch, Türkisch, Arabisch, Russisch). Darin werden die Rechte und finanzielle Leistungen für Familien mit einem Kind mit Behinderung erklärt.
Die Lebenshilfe bietet eine Themenseite mit Hintergrundinformation, Ideen für die kultursensible Arbeit mit geflüchteten Menschen mit Behinderung und zur Förderung der Selbsthilfe, politischen Forderungen und weiterführenden Links.
→ Lebenshilfe, Themenseite "Migration und Behinderung"
Selbstorganisationen und Beratungsstellen
Da es manchmal leichter und auch hilfreicher sein kann, sich mit Menschen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, haben sich Selbsthilfevereine von Migrantinnen und Migranten gegründet. Die Website "Familienratgeber" von Aktion Mensch e.V. listet Beratungsstellen und Selbstorganistionen auf:
→ Familienratgeber, Migrantische Selbsthilfevereine für Menschen mit Behinderung
Eine weitere Selbstvertretung von geflüchteten Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen ist die Gruppe „Selbstvertretung NOW!“, die im Rahmen des Projekts „Crossroads“ von Handicap International gegründet wurde. Die Gruppe informiert auf Arabisch, Deutsch, Englisch, Farsi und Kurdisch über ihre Arbeit und ihr Selbstverständnis.
→ Selbstvertretung NOW! Nicht ohne das Wir
Das Deutsche Rote Kreuz betreibt eine Bundeskontaktstelle (BKS), deren Hauptaufgabe es ist, Unterstützungsbedarfe von neu einreisenden Geflüchteten (primär größeren Gruppen) nach Deutschland bereits vor Ankunft zu identifizieren, um in passgenaue Angebote in der stationären Pflege oder Eingliederungshilfe zu vermitteln. Darüber hinaus ist die BKS Anlaufstelle für Informationsanfragen zur gesundheitlichen Versorgung in Deutschland. Sie kann sowohl per E-Mail als auch telefonisch kontaktiert werden. Kontaktdaten und Informationen zu ihren Aufgaben hat die BKS aus ihrer Website veröffentlicht.
→ Deutsches Rotes Kreuz, Bundeskontaktstelle Hilfe für Geflüchtete mit Behinderung oder Pflegebedarf
Die Initiative „Deafrefugees“ hat zahlreiche nützliche Kontaktadressen zusammengestellt. Diese umfassen Verbände und Initiativen auf Bundes-, Landes- und lokaler Ebene sowie Gebärden-Dolmetscher*innen. Die Seite ist auf Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch verfügbar und auf jeder Seite gibt es ein Video in der jeweiligen Gebärdensprache, in dem der Inhalt der jeweiligen Seite erläutert wird. Außerdem stellt Deafrefugees eine Link-Seite zur Verfügung, die auf weitere Informationsangebote und -Kanäle (z.B. Telegram-Kanal) verweist.